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Foto: Ata Ahmad
#Bremer Köpfe
27. Juli 2024

„Unsere Kinder schreiben die Geschichten von morgen“

Bremer Poetin und Menschrechtsaktivistin Sadaf Zahedi im Interview

Sadaf Zahedi engagiert sich mit ihrer Initiative „Bildung ohne Bücher“ im Kampf gegen die Unterdrückung von Kindern und Frauen in Afghanistan. Im Juni ist sie bei „Poetry on the Road“ zu Gast.

Sadaf Zahedi engagiert sich mit ihrer Initiative „Bildung ohne Bücher“ im Kampf gegen die Unterdrückung von Kindern und Frauen in Afghanistan. Im Juni ist sie bei „Poetry on the Road“ zu Gast.

Mit gerade einmal drei Jahren kam Sadaf Zahedi Ende der 1980er-Jahre über Umwege aus Afghanistan nach Deutschland – als Kriegsgeflüchtete verbrachte sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern zwei Jahre in einem Auffanglager in Pakistan, bevor die Familie schließlich nach Bremen übersiedelte. Ein vermeintlicher Neuanfang, doch die Gewalt ihres Heimatlandes ließ sie auch hier nicht los, wie Zahedi rückblickend selbst sagt. An ihre Kindheit hat sie keine schönen Erinnerungen, jahrelang litt sie unter dem strengen Regiment des Vaters, einem ehemaligen Mudschahedin- und islamischen Widerstandskämpfer. Doch Zahedi kämpfte sich frei – und mithilfe ihrer kraftvollen Poesie und viel Unterstützung in ein unabhängiges Leben. Heute engagiert sich die 39-Jährige im Kampf gegen die Unterdrückung von afghanischen Kindern und Frauen, erhebt ihre Stimme gegen die allgegenwärtige Gewalt in ihrer Heimat und hat das Hilfsprojekt „Bildung ohne Bücher“ ins Leben gerufen, das Kindern weltweit das Recht auf Lernen ermöglichen will.

Frau Zahedi, Sie sind als Kind aus Kabul über Pakistan nach Bremen geflohen. Haben Sie Erinnerungen an diese Zeit?

Tatsächlich ja, obwohl ich noch sehr klein war. Ich erinnere mich zum Beispiel an das Heim in Pakistan, an die fensterlosen Räume, die Eidechsen an den Wänden und die riesigen Kakerlaken auf dem Boden. Meine Geschwister und ich haben uns Kissen unter die Fußsohlen gebunden, um sie zu zertreten. Es gab viel Gewalt, viel Hilflosigkeit. Ich habe mich mit drei Jahren gefragt, ob ich überleben würde. Solchen Gedanken sollte kein Kind jemals ausgesetzt sein.

Wie ging es in Bremen für Sie und Ihre Familie weiter?

Mein Zuhause war geprägt von extremem Patriotismus. Ich hatte wenige Freunde oder Freundinnen und war während meiner Schulzeit viel allein. Mit 14 Jahren habe ich dann angefangen, meine Gedanken und Gefühle künstlerisch auszudrücken und auch meine ersten Geschichten geschrieben. Das empfand ich damals und empfinde es noch heute als sehr heilsam.

Schreiben war Ihre Form der Therapie?

Auf jeden Fall. Bis vor ein paar Jahren habe ich aber immer nur für mich geschrieben. Als mein ältester Sohn 2019 auszog, habe ich mich hingesetzt und angefangen, meine Erinnerungen in meine Handynotizen zu tippen. Da ist plötzlich all der Schmerz aus meiner Vergangenheit aus mir raus- und in diese Geschichte hineingeflossen. Endlich konnte ich loslassen. Ich habe den Text dann tatsächlich dem Literaturprofessor Dr. Klaus Urban gezeigt, der zu mir meinte: „Das kann was werden, Sadaf.“ Daraus entstanden sind schließlich meine „Vier Jahreszeiten“. Die Erzählung hat mich therapiert, darin steckt mein ganzes Leben.

Für die Sie 2021 sogar bei dem Literaturwettbewerb der Erik-Neutsch-Stiftung ausgezeichnet wurden.

Das war wirklich unglaublich! Mit der Erzählung bin ich noch immer für Vorträge oder Lesungen unterwegs. Im Rahmen eines Auftritts in München kam ich dabei vor Kurzem in eine Burka gehüllt auf die Bühne, um meine Texte vorzutragen. Die Reaktionen waren überwältigend, das Publikum geschockt. Das wollte ich erreichen.

Wie haben Sie sich dabei gefühlt?

Schrecklich. Als ich die Burka das erste Mal angezogen hatte, habe ich sie mir sofort wieder heruntergerissen. Ich bekam Platzangst, litt unter Atemnot. Die Vorstellung, dass Tausende Mädchen und Frauen in diesem Augenblick zu so etwas gezwungen werden, ist einfach unmenschlich.

Mit Ihrem Engagement möchten Sie auf die Notlage in Afghanistan aufmerksam machen. Wie schaffen Sie das?

Seitdem ich selbst Mutter bin, beschäftigt mich die Frage nach der Ungerechtigkeit, mit der wir in dieses Leben hineingeboren werden, noch viel mehr. Kein Kind sucht sich aus, wo es geboren werden möchte, mit welcher Hautfarbe oder in welchem Land – und trotzdem sind die Chancen so ungleich verteilt. Die Unterdrückung und Gewalt in Afghanistan tun mir persönlich in der Seele weh, es ist und bleibt meine Heimat.
Mit meinen Texten und meinen lyrischen Performances möchte ich öffentliche Aufklärungsarbeit leisten und den Blick auf die Situation in Afghanistan lenken, aber auch allgemein zu mehr Mitgefühl aufrufen. Hinsehen, hinhören, helfen. Das Gemeinsame ist essenziell, sonst schaffen wir es nicht.

Was wünschen Sie sich zu erreichen?

Ich möchte den afghanischen Kindern und Frauen eine Stimme geben und Aktivist:innen stärker miteinander vernetzen. Mein Ziel ist es, gemeinsam laut und präsenter in den Medien zu werden und zum Handeln zu bewegen. Die iranische Frauenbewegung hat es vorgemacht, die Community ist gut vernetzt und extrem stark. Das wünsche ich mir für die afghanische auch. Ich bin schon mit vielen Stimmen weltweit im Austausch, spreche mit Aktivist:innen in Deutschland, England, den USA und Afghanistan. Auch die Autorin Düzen Tekkal und iranische Frauen wie Daniela Sepehri, Melissa Khalaj oder Ghazal Abdollahi unterstützen mich sehr. Dafür bin ich unglaublich dankbar.

Als Bremer Poetin sind Sie deutschlandweit unterwegs, im Juni folgt mit Ihrem Auftritt bei „Poetry on the Road“ ein Heimspiel. Was darf Ihr Publikum erwarten?

Es wird ein sehr poetischer und sehr lyrischer Abend mit vielen ausdrucksstarken Texten über die politische Lage meiner Heimat und die Situation der Frauen in Afghanistan. Durch Poesie erreiche ich die Menschen auch mit schweren und verstörenden Themen, verwebe knallharte Fakten mit poetischer Sprachkunst, um wichtige Botschaften sanfter zu verpacken. Das habe ich unter anderem Sebastian Butte zu verdanken, der das „Slammer Filet“ organisiert und von Anfang an an mich und meine Texte geglaubt und mich ermutigt hat, Teil der Slammerszene zu werden. Als Regina Dyck mich für dieses Jahr angefragt hat, habe ich mich riesig gefreut. Es ist immer wieder eine große Ehre, in Bremen aufzutreten und hier gehört zu werden.

Vor Kurzem haben Sie die Initiative „Bildung ohne Bücher“ ins Leben gerufen, die Bildung für Kinder weltweit zugänglich machen möchte. Ein ambitioniertes Ziel – wie wollen Sie das umsetzen?

Das Projekt ist eine Initiative zur zweisprachigen Bildungsförderung analphabetischer Kinder in den ländlichen Gebieten Afghanistans. Knapp zwei Drittel dieser Kinder leben mit Analphabetismus, aber Bücher sind verboten und der Schulbesuch nur bis zur sechsten Klasse erlaubt. Ich habe daher eine Geschichte für Kinder bis zwölf Jahren geschrieben und als Hörbuch eingesprochen, in der sich drei Tiere auf eine Reise um die Welt begeben und gemeinsam andere Länder und Kulturen entdecken. Spielerisch aufgebaute Lerneinheiten zwischen den Kapiteln beziehen die Kinder aktiv in die Geschichte mit ein. Wie leben wir mit- statt gegeneinander, welche Werte und Normen wollen wir weitergeben? Nächstes Jahr starte ich den Testlauf mit 2000 Kindern, für das ich Dörfer in ganz Afghanistan besuche.

Unternehmen Sie die Reise allein?

Ich habe mittlerweile viel Hilfe und ein tolles Team von acht Leuten aus Ethnolog:innen, Jurist:innen, Ingenieur:innen, Sozialpädagog:innen, Lehrerinnen und Sprecherinnen aufgebaut. Alle helfen ehrenamtlich und ich gründe gerade meinen eigenen Verein. Es gibt so viele Möglichkeiten, die Welt zu verbessern. Wir sind aktiv geworden und leisten mit diesem Hilfsprojekt unseren Beitrag. Es ist langfristig angelegt, auf 20 bis 40 Jahre. Aber unsere Kinder schreiben heute die Geschichten von morgen und wir müssen jetzt anfangen, um kommende Generationen zu schützen und deren Entwicklung zu fördern.

Bücher und Musik sind in Afghanistan verboten. Wie setzen Sie das Projekt um?

Wir arbeiten mit hitzebeständigen MP3-Playern und bespielen diese mit Naturgeräuschen, Geschichten, Gebeten und Erzählungen aus der afghanischen Kultur. Wir wollen uns an alle Vorschriften halten und dem Islam nicht widersprechen. Den Dorfältesten bieten wir zudem an, die Gemeinschaft mit Lebensmitteln und Silberionen zur Aufbereitung von Trinkwasser zu versorgen.

Gibt es noch weitere Ziele und Pläne?

Unsere Zeit ist endlich. Ich möchte weiter über meinen Freiheitskampf schreiben und mit meinen Worten und meinem Aktivismus ein Vorbild für jedes Kind und vor allem für die Mädchen, Jungen und Frauen in Afghanistan sein. Ich möchte mein Projekt auch in anderen Ländern dieser Welt umsetzen und habe dafür mit befreundeten Aktivist:innen bereits den Grundstein gelegt. Und ich möchte weiterhin Mut machen. Wir alle müssen mit unseren Geschichten zurechtkommen und niemand kann die Vergangenheit ändern. Aber ich habe nur dieses eine Leben und kann mich jeden Tag aufs Neue entscheiden, meine Zeilen neu zu schreiben. Ich habe es schließlich auch geschafft und bin heute eine unglaublich glückliche Frau. Wer hätte das jemals gedacht?

Das Interview führte Svenja Conrad.

Das Literaturfestival „Poetry on the Road“ bringt vom 6. bis 9. Juni Poesie aus der ganzen Welt in die Hansestadt Bremen.

PROGRAMM 2024

Donnerstag, 6. Juni
Poetry-Slam-Workshop
mit Dalibor Marković (D)
10 bis 12 Uhr, online

Freitag, 7. Juni
Poetry-Schreibworkshop
mit Dalibor Marković (D)
10 bis 12 Uhr, Villa Ichon

Nacht der Poesie bei Shakespeares
ab 19 Uhr, Bremer Shakespeare Company
Künstler:innen: Marica Bodrožić (Dalmatien, D), Jaap Blonk (NL), Michael Fehr (CH), Fön (Michael Ebmeyer (D), Tilman Rammstedt (D), Florian Werner (D), Bruno Franceschini (D/IT)), Durs Grünbein (D/IT), Ronya Othmann (D), Connie Palmen (NL), Etta Scollo (D/IT)
Begrüßung: Regina Dyck
Moderation: Esther Willbrandt

Samstag, 8. Juni
City of Poetry Slam-Gala
ab 19 Uhr, Bremer Shakespeare Company
Künstler:innen: Ellen Deckwitz (NL), Philipp Herold (D), Olza Olzeta (ES), Sadaf Zahedi (D)
Moderation: Dalibor Marković (D)

Sonntag, 9. Juni
Poetry on the Bike
ab 11 Uhr, verschiedene Locations
Künstler: Philipp Herold (D), Dalibor Marković (D)

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