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Foto: A. Zuchold
#Kolumne – Baby Boomer Böhling
9. November 2025

Stille Post und volle Deckung

Unser Kolumnist Dirk Böhling erinnert sich an die Offenlegung von Klassenzimmer-Postgeheimnissen

Unser Kolumnist Dirk Böhling erinnert sich an die Offenlegung von Klassenzimmer-Postgeheimnissen

Adressiert man eigentlich unter deutschen Schulbänken noch kleine zusammengefaltete Zettelchen und lässt sie dann durch die halbe Klasse weitergeben, um dann auf die Antwort zu warten? Wahrscheinlich nicht. Diese „Stille Post“ war ja sozusagen der Vorläufer von SMS, WhatsApp und Co, die heute als Informationsträger im Klassenzimmer fungieren. Das Verfassen von Nachrichten während des Unterrichts ist wohl geblieben, aber die Weitergabe erfolgt inzwischen elektronisch. Im Hinblick auf Inhalte und Textdichte dieser Mitteilungen hat sich allerdings kaum etwas geändert. Sätze, die keinen Aufschub dulden, wie etwa: „Nach der Dritten ins Café?“; „Hast du die Mathehausaufgaben?“; oder auch „Ich hätte heute Nachmittag Zeit, du auch?“ konnte man ebenso auf den Zettelchen der 80er-Jahre lesen, wie heutzutage in den Textnachrichten von Mobiltelefon oder iPad.

Der einzige Vorteil der elektronischen Endgeräte ist, dass man notfalls den Verlauf löschen kann, bevor die wachsame Lehrkraft etwas vom Mitteilungsbedürfnis der Schülerschaft mitbekommt. Das war bei den Zettelchen eher nicht möglich – es sei denn, der Adressat schluckte sie kurzerhand runter … Wenn sie oder er das aber nicht tat, konnte es schon mal passieren, dass die ganze Klasse Zeuge einer eigentlich privat gemeinten Konversation wurde, indem sie ganz einfach unter völliger Missachtung von Zettelchen-Datenschutz und Privatsphäre vorgelesen wurde.

Unser Deutschlehrer war darin besonders kreativ und machte die Offenlegung des Klassenzimmer-Postgeheimnisses zu einem wahren Event. Zur Unterhaltung meiner Mitschüler:innen und als gern genommene Unterbrechung des Unterrichts stürzte er sich mit großer Freude auf die geschriebenen Zeilen und kommentierte sie pointenreich: „Wenn sich hier irgendjemand fragt, wo und mit wem Dirk gestern seinen Nachmittag verbracht hat, so kann uns eine nicht näher genannt werden wollende Mitschülerin darüber Auskunft geben, wie ich hier lese … Wer sich angesprochen fühlt, kann dieses Papier später bei mir abholen!
Übrigens schreibt man das schöne Wort ‚peripher‘ mit zwei e und ph. Und als besondere Hausaufgabe bekomme ich morgen von Dirk einen Text mit dem Titel ‚Was bedeutet eigentlich nebensächlich, und warum ist es wichtig, dass Birthe das weiß?‘“

Ich muss wohl nicht erwähnen, dass sich meine Gesichtsfarbe unter schallendem Lachen der Klasse ins Rötliche gefärbt hatte. Ja, in den Deutschstunden musste man aufpassen, wenn man Klassenzimmer-Post verschicken wollte – allerdings nicht so sehr wie bei meinem Lieblingslehrer, den wir in Englisch hatten. Wenn der nämlich vom Absenden, von der Weitergabe oder von der In-Empfangnahme eines Briefchens Wind bekam, flog die Kreide – und dabei war es völlig egal, wen das Schreibwerkzeug traf. Besonders blöd war es dann, dass die oder der Getroffene das Geschoss auch noch artig wieder an der Tafel abgeben musste … Das Ergebnis: In Englisch wurde absolut nichts auf- oder weitergegeben. Da war der mobile Postschalter dann ganz einfach wegen Verletzungsgefahr geschlossen!

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