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Foto: Matthias Höllings
#Kolumne – Matthias Höllings
6. Dezember 2024

„Sondermüll-Deponie“ im Keller

Vor einiger Zeit suchte ich vergeblich nach meiner Single „Plasticman“ von der Gruppe „The Kinks“, die ich 1969 während der Sommerferien bei „Tower Records“ in London erstanden hatte. Die Platte habe ich nicht gefunden, die Plastiktüte vom Kauf aus dem Laden schon. Aber was mache ich jetzt mit der Tüte?

Vor einiger Zeit suchte ich vergeblich nach meiner Single „Plasticman“ von der Gruppe „The Kinks“, die ich 1969 während der Sommerferien bei „Tower Records“ in London erstanden hatte. Die Platte habe ich nicht gefunden, die Plastiktüte vom Kauf aus dem Laden schon. Aber was mache ich jetzt mit der Tüte?

Eine ähnliche Fragestellung löste der damals 16-jährige Bremer Jürgen Francke für sich dadurch, dass er eine Plastiktüte von den Olympischen Spielen 1972 in München nur drei Jahre später einfach an einen Haken in seinem Zimmer hängte. Auf wundersame Weise blieb diese Plastiktüte nicht allein. Als der Haken vor lauter Tüten nicht mehr halten wollte, entstand zum Leidwesen seiner Mutter ein hinderlicher großer Stapel auf dem Fußboden, aus dem später ein Tütenkarton wurde. Und wie das bei Sammlern so ist, findet man einfach kein Ende. Heute, 50 Jahre später, meckert zwar niemand mehr, aber aus einem Karton sind siebzehn geworden. In Plastiktüten sind das 60.000 Exemplare – und davon sind nur ganz wenige doppelt vorhanden. Was will uns Jürgen Francke, früher Journalist bei der „taz“ und bei Radio Bremen mit Schwerpunkt Film, damit sagen?

Er sieht sich als eine Art „Bewahrer“: „Als vor vielen Jahren der Umweltgedanke endlich die Oberhand gewann, habe ich mir gedacht, dass es bei Erreichen meines Rentenalters keine Plastiktüten mehr gibt. Plötzlich unterlagen sie einem Bann und niemand interessierte sich mehr dafür.“ 1961 brachte das Kaufhaus Horten die erste Plastiktüte in Deutschland in Umlauf, die damals noch „Hemdchentüte“ genannt wurde, da die Träger wie die eines Unterhemdes aussahen. Anfang 2022 kam das generelle Verbot, Plastiktüten weiter in Umlauf zu bringen. Poseologie nennt man das Horten dieser Taschen. Der Begriff stammt von einem dänischen Sammler, der es von dem Wort seiner Heimatsprache Pose = Tasche ableitete. Mit anderen Sammlern tauscht Jürgen Francke allerdings keine Tüten, da er nicht feststellen möchte, welche Tüten er noch nicht hat.

Doch seine Sammelleidenschaft bringt so manche Geschichte hervor. So zum Beispiel die über die Tragehilfe einer Supermarktkette, die auf der Plastiktüte Coupons zum Ausschneiden auf der unteren Seite aufdrucken ließ. Nach Verwendung der Coupons hatte die Plastiktüte also oben und unten eine Öffnung. Ein Blindenverein ließ eigene Tüten anfertigen und Jürgen Francke fragt sich – für wen eigentlich? Auch eine Molkereigenossenschaft wollte für sich werben – warum? Für Milch in Tüten?

In seinem großen Bekanntenkreis ist Francke dafür bekannt, dass er seine Besuche an der jeweiligen Haustür stets mit dem Satz einleitet: „Kann ich mal deine Plastiktüten-Sammlung sehen?“, um dann sofort einen neugierigen Blick unter die Küchenspüle der Gastgeber zu werfen.
Auf zwei Exponate ist der Bremer besonders stolz. Eines stammt aus Nuuk, der grönländischen Hauptstadt, das andere Exemplar erreichte ihn aus Port Stanley, Hauptstadt der Falklandinseln. „Arktis und Antarktis – mehr geht nicht, oder? Und die sind nicht geschwommen!“ Für Jürgen Francke sind seine Plastiktüten Zeitdokumente mit extrem langer Lebensdauer, wenn sie trocken und dunkel gelagert werden. Das Museum Weserburg lehnte vor gut 20 Jahren seinen Ausstellungswunsch mit der Begründung ab, dass es sich dabei um Plastiktüten und nicht um Kunst handele. Doch so schnell gibt ein Sammler nicht auf. Unter Mithilfe von Kurator Elard Lukaczik startet am 9. Mai im „Horner Eck“ in der Friesenstraße seine erste Plastiktüten-Ausstellung. Nicht alle 60.000, aber ein paar schöne Werke aus den Bereichen Bremensien aus den 70ern, Signet-Tüten, Logos als Eye-Catcher, Florales, Essen & Trinken und etliche Skurrilitäten sind dabei. Jürgen Francke, der stets zwei Plastiktüten zum Spontantausch mit Passanten auf der Straße in der Hosentasche bereithält, meint: „Eigentlich möchte ich ja alle Stücke meiner im Keller lagernden „Sondermüll-Deponie“ ausstellen, aber ich fange erst einmal mit rund hundert Plastiktüten an.“

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