Plötzlich 60!
Kolumnist Dirk Böhling sinniert über den Jahrgang 1964.
Die Tatsache, dass 1964 mit 1.357.304 Neugeborenen der Höhepunkt der Baby-Boomer-Geburtsjahre war, bevor so langsam der Pillenknick einsetzte, lässt die Vermutung zu, dass viele von uns ihren 60. Geburtstag entweder bereits gefeiert haben oder aber ihnen dieses magische Datum kurz bevorsteht. Für viele Babyboomer ist dieser Geburtstag anders als andere. Wer es hinter sich hat, berichtet zwar, dass es gar nicht schlimm sei und sich ja eigentlich nichts ändere. Aber wenn wir mal ehrlich sind, es ist schon irgendwie komisch. Tatsache ist, dass man mehr Wegstrecke hinter als vor sich hat, und sich schon die Frage stellt, wer wir sind und wie wir uns fühlen mit dieser Sechs vorne.
Also wir sind die, die Werbesprüche aus dem Fernsehen der 70er-Jahre aufsagen konnten, wir sind die, die von den 68ern immer für blöd und unpolitisch gehalten wurden und die, bei denen immer alles voll war: überfüllte Schulbusse, Klassenzimmer, Berufsberatungen, Hörsäle und Wohnungsbesichtigungen – wir waren eben immer sehr viele. Wir sind die, die wissen, was Bandsalat war, wozu man ein Überspielkabel benutzte und wie der Satz „Eine neue Liebe ist wie…“ weiterging.
Wir sind ohne „Work-Life-Balance“ und Gender-Sternchen aufgewachsen, mussten unsere Fahrräder nicht festketten und Feuchttücher gab es nur, wenn Oma vorher reingespuckt hatte. Wir lernten Gut und Böse von Eduard Zimmermann und den Waltons, richtig und falsch von Wim Thoelke und dem Verkehrskasper, und wie das mit der Liebe geht, erklärte uns Doktor Sommer. Wir feierten Feten statt Partys, wussten, welche Farbe Blue Curaçao bekommt, wenn man O-Saft hinzufügt, und auf unseren Teenager-Klamotten standen Sätze wie „No Future“, „Gorleben soll leben“ und „Die Weissagung der Cree“.
Heute sind wir für mitgebrachten Nudelsalat zu alt und für die Übergangsjacke zu jung. Wir sind die Susannes und Brittas und Sabines, die kurz vor dem Wechsel zur praktischen Kurzhaarfrisur modisch noch mal richtig Gas geben, oder die Michaels, Thomasse und Stefans im Hoodie mit dem Textaufdruck „University of Columbia“ und Businesssocken in Sneakers. Wir schreiben SMS mit einem Finger, drucken unsere E-Tickets vorsichtshalber aus und in unseren Konversationen finden sich gerne antiquarische Wortspiele wie: „Wie geht’s? Gestern ging’s noch!“ oder “Man hat’s nicht leicht, aber leicht hat’s einen“.
Dazu gesellt sich in letzter Zeit übrigens auch immer mal wieder der Satz „60 ist ja die neue 40“ – und da kann man ja mal fragen: „Aber was ist mit denen, die 40 schon blöd fanden?“. Auf die andere gern gestellte Frage „Wo ist nur die Zeit geblieben?“ habe ich übrigens für mich eine passende Antwort gefunden! Sie blieb auf der Strecke – irgendwo zwischen dem Tag, an dem mir die Fleischereifachverkäufern keine eingerollte Wurst mehr anbot, und jenem, an dem beim Friseur plötzlich freundlich nachgefragt wurde: „Die Augenbrauen auch?“