
„Man höre und staune“
„realtime 2025 – internationales festival für neue musik bremen“: Im Gespräch mit der musikalischen Leiterin und Pianistin Claudia Janet Birkholz
Claudia Janet Birkholz ist renommierte Künstlerin, Dozentin für Klavier und zeitgenössische Musik und seit 2019 die musikalische Leiterin des „realtime – internationales festival für neue musik“ in Bremen. Das innovative Festival findet alle zwei Jahre über das Himmelfahrts-Wochenende statt und bringt in diesem Jahr ungewöhnliche Klänge, Lichtkunst und Soundmaschinen auf das Gelände des Güterbahnhofs Bremen. Im Interview spricht die gebürtige Bremerin über Herkunft und Vielfalt Neuer Musik und teilt ihre Vision für die Zukunft des internationalen Events in der Hansestadt.
Erklären Sie bitte einmal: Was ist Neue Musik?
Um das zu beantworten, lohnt sich ein Blick in die Entstehungsgeschichte. Die Geburtsstunde Neuer Musik liegt etwa 100 Jahre zurück, als die Komposition in der traditionellen klassischen Musik an einem Endpunkt angekommen war. Das harmonisch-tonale System wurde bis zu diesem Zeitpunkt so weit verfeinert und erweitert, zudem war das Orchester riesig groß geworden – dem war einfach nichts mehr hinzuzufügen. Junge Komponisten stellten sich damals die Frage: Was gibt es noch? – und brachen auf in neue Klangwelten.
Was haben jene Komponisten bei dieser Suche gefunden?
Eine gängige Praxis war es, Alltagsgeräusche in die klassische Musik einfließen zu lassen. Zum Beispiel spielte in einer Sinfonie plötzlich ein Flugzeugmotor eine Rolle. Das haben einige gemacht, allen voran John Cage, einem der weltweit einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Sein Schlagzeugensemble, bestehend aus Laien, die auf Alltagsgegenständen vom Flohmarkt spielten, ist legendär. Ein weiterer wichtiger Punkt bei Cage war die Entdeckung der Stille als musikalisches Stilmittel.
Wofür ist die Frühphase Neuer Musik noch bekannt?
In jener Zeit hat John Cage das berühmte präparierte Klavier erfunden. Er hat dafür Bolzen, Schrauben, Dichtungsgummis und vieles anderes zwischen den Saiten befestigt. Die Grenzen des Machbaren wurden noch bei vielen weiteren Instrumenten erkundet und neue Instrumente erfunden, wie zum Beispiel das Theremin. Es ist das erste elektronische Musikinstrument überhaupt, mittlerweile über hundert Jahre alt, aber immer noch ziemlich unbekannt. Daran sieht man: Die Neue Musik und ihre Instrumente sind nach wie vor wenig bekannt, und das muss sich ändern.
Wie zeitgemäß ist Neue Musik?
Sagen wir es so: Sie geht seit mehr als einhundert Jahren mit der Zeit und bringt immer wieder etwas Neues hervor.
Welche aktuellen Entwicklungen sind von Bedeutung?
Die Technik hält Einzug in die Neue Musik und bietet viele spannende Möglichkeiten. Beim Festival kommen unter anderem Virtual-Reality-Brillen zum Einsatz, die Musik auf ganz besondere Weise sicht- und erfahrbar machen. Augmented Instruments ist ein weiteres interessantes Feld, in dem Instrumente technisch so verfeinert werden, dass ein ganz neues Klangbild entsteht. Die zeitgenössische Neue Musik ist vielfältig, verspielt – und so viel zugänglicher, als ihr Ruf vermuten lässt.
Hat Neue Musik ein Imageproblem?
Ja, und das ist schade. Die meisten denken bei Neuer Musik an die wenig melodiöse Zwölftonmusik, weil der Lehrplan das im Musikunterricht so vorsieht. Dabei ist diese hundert Jahre alte Methode der musikalischen Komposition nur ein kleiner und sehr besonderer Teil innerhalb der Neuen Musik und keinesfalls repräsentativ für diese Kunstform im Ganzen. An dieser Stelle setzen wir mit dem realtime-Festival an, demonstrieren die verschiedenen Facetten und zeigen, wie viel Spaß die Neue Musik bringt. Man höre und staune: Es sind in der zeitgenössischen Klassik sogar Melodien erlaubt (lacht)!
Es ist bereits die dritte Ausgabe des realtime-Festivals. Wie wurde es bisher rezipiert?
Wir sind mit der Resonanz sehr zufrieden. Ich persönlich freue mich immer dann besonders, wenn Menschen das erste Mal mit der Neuen Musik in Berührung kommen und positiv überrascht davon sind, wie zugänglich diese Kunstform ist.
Wie gelingt das?
Neue Musik wandelt gern auf bislang unbetretenen Pfaden, was den Zugang erschweren kann. Unsere Ohren werden überrascht. Darum ist ein weiterer Sinnesreiz über das Auge hilfreich, der eine unterstützende Funktion einnimmt. Das kann mal eine Tanzperformance sein, mal eine Videoprojektion, mal eine Lichtshow. Das hat sich in der Neuen Musik bewährt und findet auch beim realtime-Festival Anklang. Wichtig ist uns auch, dass jede und jeder die Möglichkeit hat, ein Konzert zu besuchen und Neue Musik kennen zu lernen. Deshalb dauert jedes Konzert nur 45 Minuten bei erschwinglichen Preisen. Tagespässe ermöglichen es, das Festival ausgiebig zu genießen, denn jeden Abend werden mehrere Konzerte geboten.
Zu erleben sind neben Neuer Musik aus dem Partnerland Spanien noch viele weitere Programmpunkte. Welche Highlights legen Sie Interessierten besonders ans Herz?
Wir möchten zeigen, was für eine Entdeckung Neue Musik sein kann – und zwar für Jung und Alt. Darum haben wir ein vielfältiges Programm, von Workshops und der Komposition einer Bremer Grundschulklasse über ein Mitmach-Orchester per Smartphone bis zu Klangspaziergängen über das Festival-Gelände. Ein besonderes Highlight findet am Samstagabend statt, wenn das Siegerprojekt zum Köster-Preis in der „Schaulust“ aufgeführt wird.
Was ist Ihre Vision für das Festival?
Bremen soll sich mit dem realtime-Festival als ein international bekannter Hotspot für Neue Musik etablieren. Das ist ein ambitioniertes Ziel, aber ich bin überzeugt: Bremen ist dafür der passende Ort!
Das Interview führte Kristina Wiede.
realtime-Programm-Highlights
Mittwoch, 28. Mai, 19 Uhr, Theater am Leibnizplatz
Eröffnungskonzert „Só Un Solo“ mit dem spanischen Perkussionisten Mario Cortizo und der Festivalleiterin Claudia Janet Birkholz am Klavier.
Donnerstag, 29. Mai, 21 Uhr, Tor 40 am Güterbahnhof
„Elektro pur – Theremin solo“ mit Javier Diez-Ena am Theremin, mit Lichtshow.
Freitag, 30. Mai, 18 Uhr, Gleishalle am Güterbahnhof
„Klang trifft Körper“ mit Lynda Cortis an Cello und Loop sowie mit der Tänzerin Valeria Cordes.
Freitag, 30. Mai, 19.30 Uhr, Tor 40 am Güterbahnhof
„Fremdkörper – Strange Things“ mit dem spanischen Ensemble Ascolta.
Freitag, 30. Mai, 21 Uhr, Tor 40 am Güterbahnhof
„GRAINS“ mit Johannes Haase an Violone und Loop, mit Videoprojektionen.
Samstag, 31. Mai, 21 Uhr, Schaulust am Güterbahnhof
„Pasta Diva“ mit Musiktheaterensemble SONDER sowie dem Kammerensemble Konsonanz, Gewinner des diesjährigen Köster-Preises.
Sonntag, 1. Juni, 11 Uhr, Mitmachtag für alle am Güterbahnhof
Workshop für Kinder und Jugendliche mit dem Jugendensemble Smusic21 und mit anschließendem Konzert.
Sonntag, 1. Juni, 13.45/16.30 Uhr, Gleishalle am Güterbahnhof
„The Whisper Of Time“, Tanzperformance mit Larumbe Danza aus Spanien.
Sonntag, 1. Juni, 15 Uhr, Tor 40 am Güterbahnhof
„Totally Made Up Handy-Orchestra“, zum Mitmachen, mit Claudia Janet Birkholz, dem SWR-Experimental-
studio und weiteren.
Do., 16 Uhr, Sa., 15 Uhr und So., 12/16 Uhr, OPEN AIR am Güterbahnhof
Klangspaziergänge mit dem Audiotherapeuten Jörn Paland.
Das vollständige Programm des „realtime 2025 – internationales festival für neue musik bremen“ unter www.realtime-bremen.de