Endlich volljährig!
Unser Kolumnist Dirk Böhling ruft den 1. Januar 1975 ins Gedächtnis.
Der 1. Januar 1975 war ein Mittwoch und für die meisten Baby-Boomer kein besonderer Tag. Wahrscheinlich haben viele am Silvesterabend zuvor mit ihren Eltern die Show „Stars in der Manege“ geguckt, in der Schauspiellegende Curd Jürgens als Zirkusdirektor seinen Kollegen Gerd Fröbe als Schattenboxer, „Mister Tagesschau“ Karl-Heinz Köpcke als Hundedresseur und „Dalli Dalli“-Moderator Hans Rosenthal als Artist mit fliegenden Tellern präsentierte.
Ein paar von ihnen durften dann vielleicht noch bis Mitternacht aufbleiben, mit einer alkoholfreien Erdbeerbowle anstoßen und mussten dann aber ab ins Bett. Am nächsten Morgen hatte man bis mittags die Bude für sich, weil die Eltern ausschliefen. Und da es damals eher nicht üblich war, das Wohnzimmer nach dem Ende einer Party noch aufzuräumen, konnten die Kinder anhand der überfüllten Aschenbecher und Getränkereste in den Gläsern das lustige Spiel, „Wer saß gestern wo?“ spielen. Dass an diesem Tag das „Jahr der Frau“ begann, die Konditorei Coppenrath & Wiese gegründet wurde und auf Platz eins der deutschen Singlecharts Michael Holms Schmachtfetzen „Tränen lügen nicht“ stand (ich weiß, Sie summen jetzt: „aha ha ha hahaha haha“), interessierte die meisten von uns eher wenig. Wer allerdings ältere Geschwister hatte, kann sich vielleicht doch an die besondere Bedeutung dieses Datums erinnern. Denn alle zwischen 1954 und 1956 geborenen Jugendlichen in Westdeutschland, und das waren gut 2,5 Millionen, wurden an diesem Tag auf einen Schlag juristisch gesehen für erwachsen erklärt, also geschäftsfähig.
Der Grund: Die Bundesregierung hatte das Volljährigkeitsalter von bisher 21 auf 18 Jahre herabgesetzt. Und das bedeutete für die „Großen“, dass sie nun einiges mehr durften als noch einen Tag vorher. Plötzlich durften sie selber entscheiden, wo und mit wem sie wohnen – sie durften Verträge schließen und heiraten. Und sie durften wählen gehen, und das war für die politischen Entscheider Mitte der 1970er-Jahre eigentlich das Wichtigste. Wären damals schon regelmäßig die Worte des Jahres gekürt worden, der Begriff „Jungwähler“ hätte sicherlich eine Chance gehabt. Eben diese hatten die Parteien bei der Bundestagswahl 1976 auch besonders im Blick, um für die damals etablierten politischen Farben Rot, Schwarz und Gelb zu werben.
Zum ersten Mal sah man in den Wahllokalen hochhackige Stiefel unter Schlaghosen und körperbetonte Blusen und Hemden, als Bundeskanzler Helmut Schmidt seine erste Bewährungsprobe überstehen musste. Als ich 1983 zum ersten Mal zwischen Wahlslogans wie „Im deutschen Interesse“, „Jetzt den Aufschwung wählen“ oder „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt“ an eine Wahlurne treten durfte, hatte Kanzler Helmut den Nachnamen gewechselt. Und es schaffte mit Grün eine weitere politische Farbe in den Deutschen Bundestag. Ich war ein Jahr vorher volljährig geworden, genau an dem Tag, als Michael Jacksons Album „Thriller“ erschien, und ich hatte mein Kreuz längst bei einer anderen Farbe gemacht – meine erste Wahl mit 18 fiel auf einen Opel Kadett in Brilliant/Signalocker!