
Die neue Karola Petersen
Unser Kolumnist Matthias Höllings sinniert über seine Verbindung zum Krabbenbrötchen.
Beim Biss in ein frisches Krabbenbrötchen für fast zehn Euro kann einem ob des Preises schon mal etwas schwindelig werden, aber es werden bei mir auch sofort Heimatgefühle wach. Zum einen, weil ich in Bremerhaven geboren bin und zum anderen, weil mich dieser typisch norddeutsche Snack an meine Jugend in Ostfriesland erinnert. Granat, so heißen die Dinger an der Nordseeküste, konnte ich mir in den 1970er-Jahren noch ungepult, aber problemlos und billig im Hafen kaufen. Ein Kilo direkt von Bord war nicht viel, weil schon zwei Drittel des Rohgewichts beim Pulen verloren gingen. Hilfreich waren da die vielen Ostfriesinnen, die mit flinken Fingern Kopf und Schwanz „abdrehten“ und damit einen guten Nebenverdienst in die jeweilige Haushaltskasse spülten. Eines dieser jungen Mädchen war Karola Petersen, dem Klaus Büchner (der Kleine Klaus von Klaus & Klaus) als Sänger von Torfrock ein musikalisches Denkmal setzte. Auf die Melodie des Chuck-Berry-Hits „Oh, Carol“ reimte er: „Oh Karola, siet letzte Woch’ is dat um mi gescheh’n – ick heb’ di inne Köök Krabben pulen seh’n“.
Wenn der verliebte Klaus sich heute noch einmal auf ähnliche Weise verlieben wollte, müsste er nach Marokko fahren, da dort aktuell bis zu 90 Prozent aller gefangenen „deutschen“ Krabben für kleines Geld gepult werden, bevor es zurück in die Heimat geht. Kein Wunder, dass diese Nordsee-Delikatesse mittlerweile doppelt so teuer wie Rindfleisch ist. Die Krabbenfischer haben nicht viel von ihrem Fang und werden im Schnitt mit acht Euro pro ungepultem Kilo abgespeist. Da muss man schon Glück beim Fischen haben und hoffen, dass einem der gemeine „Blaue Wittling“ nicht schon vorher einen Großteil des Fangs weggefressen hat.
Und so stehe ich mit meinem Krabbenbrötchen des Öfteren an der Weser und überlege, was wohl eine einzelne Krabbe kosten würde oder ob ich mein Fischbrötchen in Casablanca für den halben Preis bekäme, weil die Tiere ja ihre Heimreise noch nicht angetreten haben?
Klar, dass bei solchen Preisspannen auch der plietsche Ostfriese ein Geschäft wittert – eine Krabbenpulmaschine musste her. So ein Monstrum wurde tatsächlich gebaut und funktionierte, aber es haperte an der Geschwindigkeit. Die Frauen in der Küche waren per Hand einfach schneller. Aber eines von ihnen wollte es wissen: Kristin Klever (ein passenderer Name wäre Clever) aus Großheide im Landkreis Aurich hatte einen Plan und legte los. Sie fand nicht nur heraus, dass die Krabben Vitamin D, B12, Magnesium, Kalzium, Natrium, Selen, Zink und Jod enthalten und damit wichtig für das menschliche Immunsystem sind. Ihr fiel außerdem auf, dass der Chininpanzer der Tierchen ähnlich aufgebaut ist wie die menschliche Niere. Deshalb behandelte sie die Krabben mit Ultraschall. Nach nur sieben Minuten verlieren die Dinger restlos ihren Panzer, ohne dabei das verbleibende Fleisch zu schädigen. Genial! Mittlerweile hat die junge Maschinenbaustudentin ihre Idee patentieren lassen.
Tja, und wenn ich jetzt mal wieder gedankenverloren mit meinem Brötchen in der Hand in der Gegend stehe, denke ich statt an Karola Petersen an „Chinin-Kristin“, die sich in Großheide fischverliebt hat.
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