Der Mann mit den Stahlkappenschuhen
Was die Schuhe eines Mannes über ihn aussagen, weiß Matthias Höllings, ehemaliger Pressesprecher der ÖVB-Arena. In seiner Kolumne geht es diesmal um Stahlkappen, den Weihnachtsmann, Sonnenbänke und eine Musikerkarriere.
„Guck’ auf die Schuhe des Mannes, dann weißt du, aus welchem Hause er stammt“, pflegte meine Mutter stets zu sagen, wenn wir über Menschen sprachen, die uns gerade vorgestellt wurden. Ungeputztes Schuhwerk oder schiefgelaufene Absätze gingen bei ihr gar nicht. Was hätte sie wohl gesagt, wenn ich ihr Stefan vorgestellt hätte? Groß an Statur, kräftig, dunkler Anzug, weißes Hemd ohne Krawatte, aber dazu stets dicke Arbeiterschuhe mit eingearbeiteten Stahlkappen. Wahrscheinlich hätte sie auf einen Lkw-Fahrer getippt, der sich fein gemacht, aber kein Geld für vernünftiges Schuhwerk hat. Mit Lagerarbeiter hätte sie richtig gelegen, denn Stefans Vater Harry besaß in Hamburg-Barmbeck eine der legendärsten Reifenhandlungen der Stadt. Da musste er als Sohn schon mal mit anpacken und wäre dabei mit Wildlederschuhen nicht weit gekommen. Auch als Weihnachtsmann hat sich Stefan versucht, um Kohle zu verdienen und war sogar eine Zeit lang damit beschäftigt, Sonnenbänke auf Münzbetrieb umzustellen. Was macht man nicht alles, um sich seinen Traum zu erfüllen? Stefans Traum war die Musik. Sein Schulfreund Micky Reinke gab ihm schon früh den Tipp: „Wenn du was zu sagen hast, dann stell’ dich hin und sing’.“ Wo konnte er das besser ausprobieren, als in Fußgängerzonen als Straßenmusiker? Und falls ihm dort einmal jemand auf die Füße trat … Stahlkappen in den Schuhen halfen. Vielleicht hätte ihm bei eventuellen Handgreiflichkeiten auch seine Ausbildung im Fechten geholfen? Da fällt einem auch schon mal das Florett auf die Füße. Stefan entdeckte die Liebe zur schwarzen Musik und lernte, mit seinem Publikum zu kommunizieren und … schaffte tatsächlich den Durchbruch, da war er mittlerweile 46 Jahre alt. Bis heute kann er keine Noten lesen, hört nur auf die Musik und verlässt sich auf seine innere Stimme. Englischsprachige Klassiker aus Soul und Jazz interpretiert er in deutscher Sprache völlig neu – mit viel Seele und Gelassenheit.
Bei den Reifen seines elterlichen Betriebes war die Tiefe des Profils stets messbar, die Profiltiefe seines Gesangs ist unüberhörbar. Kein Wunder, dass dieser Typ mit den Stahlkappenschuhen vor fast zwanzig Jahren als Aufsteiger des Jahres gefeiert wurde und sich seitdem immer wieder neu erfindet. Mal als Solokünstler, Vorleser, Schauspieler, mal als Musiker mit ein paar Gleichgesinnten in der Kneipe oder mit zwei Freunden als „Söhne Hamburgs“. Nur Reifen verkauft er in Barmbeck keine mehr. Aber dieser Stefan ist so nett, dass er stets genug musikalische Mitstreiter findet, die ihn nur zu gerne unterstützen. Mit seiner aktuellen Band, verstärkt durch vier Streicher, tritt er am Samstag, den 16. Oktober in der Glocke in Bremen auf. Und wenn ihm die Begeisterung seiner Zuhörer auf die Füße fällt? Macht nichts – er hat ja Stahlkappen in seinen Schuhen. Reifen Gwildis ist in Hamburg Geschichte – es lebe Stefan Gwildis in Bremen.