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Dirk Böhling. Foto: FR
#Kolumne – Baby Boomer Böhling
27. November 2021

Der Weihnachtsmann sieht alles!

Dirk Böhling, Jahrgang 1964, verbindet das Weihnachtsfest seiner Kindheit mit einem älteren Herrn mit Rauschebart, der jedoch kein Unbekannter war...

Dirk Böhling, Jahrgang 1964, verbindet das Weihnachtsfest seiner Kindheit mit einem älteren Herrn mit Rauschebart, der jedoch kein Unbekannter war...

Früher war nicht nur mehr Lametta, früher war auch die Ehrfurcht vor Autoritäten irgendwie größer, und wer stellt für ein Kind die größtmögliche Autorität dar? Natürlich, der Weihnachtsmann. So häuften sich zum Jahresende Sätze wie „Der Weihnachtsmann sieht alles!“, wenn das Kinderzimmer mal wieder aussah wie Manhattan in dem Film „Independence Day“. Oder: „Du weißt schon, wer jetzt auch zuhört?!“, wenn man sich entschlossen hatte, den Erziehungsberechtigten Widerworte zu geben. Auch scheinbar gut gemeinte Hinweise wie: „Das würde ich mir überlegen, du weißt schon, warum …“ waren mit Blick auf die nahende Bescherung gern genommene pädagogische Hilfsmittel im täglichen Erziehungsalltag.

Gut, das Haltbarkeitsdatum dieser elterlichen Drohgebärden endete meist am 25. Dezember, aber bis dahin funktionierten sie. Schließlich wollte man ja am Heiligabend nicht leer ausgehen, sondern den handgeschriebenen Wunschzettel einigermaßen abgearbeitet wissen. Eltern, die heute versuchen, ihre Sprösslinge in der Vorweihnachtszeit mit derlei Druckmitteln zu beeinflussen, können zwar immer noch kurzfristig die gewünschten Erziehungserfolge erzielen, werden aber manchmal auch von ihnen eingeholt. Das passiert meistens, wenn man überhaupt nicht damit rechnet und gern auch in Situationen, die man dann nicht wirklich retten kann. So begab es sich also zu dieser Zeit, dass auch der kleine Tom in Tagen des digitalen Wunschzettels dem Weihnachtsabend entgegenfieberte, nicht ohne von seinen Eltern des Öfteren vor den Karren, pardon Schlitten des rot bemäntelten Herren gespannt zu werden. Auch dieses Kind durfte sich die oben zitierten Sprüche anhören, damit Zimmer aufgeräumt, pünktlich Schlafen gegangen oder der Teller leergegessen wurde – es gibt eben Dinge, die ändern sich nie.

Die Allgegenwärtigkeit des Rentier-Chefs wurde überdies zusätzlich gesteigert, weil dem Fünfjährigen angekündigt worden war, dass er den Überbringer der Gaben in diesem Jahr persönlich kennenlernen würde. Jawohl, der Weihnachtsmann hatte sich angemeldet, bei ihm vorbeizukommen. Das löste natürlich eine gewissen Unruhe in dem kleinen Kerl aus, der ja mittlerweile wusste, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, dem Alten irgend etwas vorzumachen. Der war ja sowieso informiert und wusste so gut wie alles. Es kam, wie es kommen musste: Am frühen Abend des 24. Dezember stand tatsächlich ein älterer Herr mit Rauschebart, roter Kluft, und was das Wichtigste war, mit einem großen und sichtlich gut gefüllten Kartoffelsack vor der Tür. Tom bat ihn herein und bot ihm, wie zuvor abgesprochen, einen Stuhl an. Was nun folgte, war ein Satz, den fast jede Person aus der eigenen Kindheit kennt: „Na hast du denn auch ein Gedicht für mich gelernt?“, fragte der Weihnachtsmann mit sonorer Stimme. Die Antwort war allerdings neu und bewies ganz nebenbei, dass elterliche Drohgebärden auch komplett nach hinten losgehen können. Tom schaute sein Gegenüber nämlich etwas verdutzt und ebenso frech an und antwortete: „Das hab’ ich dir doch gestern Abend zweimal vor dem Schlafengehen aufgesagt, als wir alleine waren – hast du doch gehört. Nun lass uns mal auspacken!“

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